Nachbarschaft


Die sächsische Nachbarschaft war in allen, auch in nur teilweise deutsch besiedelten Gemeinden die konsequenteste soziale Organisation der Siebenbürger Sachsen für gegenseitige Hilfeleistung in Freud und Leid, für Aufrechterhaltung der öffentlichen bürgerlichen Ordnung und Sicherheit sowie für die Pflege von Sitte und Brauch, ganz besonders des kirchlichen Lebens in der Gemeinde. Sie hat sich durch Jahrhunderte erhalten und bewährt und erzog durch Generationen einen Gemeinsinn und eine Hilfsbereitschaft, die vielen bei Katastrophenfällen zum Überleben verhalfen – nicht zuletzt in den Jahren nach 1945. Als ein lebendiger und selbsttändiger Organismus besorgte die Nachbarschaft all die vielen Dinge, die heute weitgehend ein zentralisierter und komplizierter Verwaltungsapparat zu versehen hat, im eigenen Wirkungskreis und in Eigenverantwortlichkeit. Zwei besondere Zwecke standen von alters her im Mittelpunkt des nachbarschaftlichen Verbandes: die Pflege des gemeinsamen Brunnens und die würdige Ausgestaltung der Totenfeier. Wie in einer großen Familie hatte jeder Nachbar Anrecht auf Hilfe mancherlei Art, sooft er >>etwas Schweres zu heben hat, so ihm allein zu schwer ist, es möge sein was es wolle, Zu Ehren oder Bekümmernis<< (Nachbarschaftsartikel der Dorfgemeide Pretei). Weitere wichtige Aufgabenstellungen waren der Beistand beim Hausbau, Hilfe bei Krankheit, gemeinsame Vorkehrungen gegen Feuersgefahr, Hilfe bei Hochzeiten, Geburt und Taufe, Regelung des Weinschanks, Hilfe bei Unglücks- oder Katastrophenfällen, Schlichtung von Streitigkeiten u. a. m. In unserem Jahrhundert erhielt die Mithilfe beim Bau des großen Gemeinschaftshauses (>>Saal<<) für die Abhaltung von großen Hochzeiten oder Festen sowie die Mithilfe beim Kirchenrenovieren großes Gewicht.

Trotz vieler Einflüsse von außen konnten sich die Nachbarschaften vor dem Aufgehen in der Zunft oder Gemeindeverwaltung bewahren und an ihrem religiösen Grundzug festhalten. Jede Nachbarschaft war der geistlichen Oberaufsicht unterstellt (Pfarrer, Konsistorium, Presbyterium), oberste Instanz war der freigewählte Nachbarschaftsvater oder -hann, dem etliche Gehilfen zur Seite standen. Der Nachbarschaft gehörten ausnahmslos alle verheirateten und hofbesitzenden Männer an, die sich kurz nach der Hochzeit >>einkaufen<< bzw. >>einbitten<< mußten. Erst sehr viel später organisierten sich die Frauen in einem ähnlich straffen Zusammenschluß. Alle Rechte und Pflichten der Nachbarschaft waren durch zunächst mündlich tradierte Gewohnheitsrechte, später jedoch schriftlich niedergelegte und oftmals überarbeitete, strenge Gesetze, die Nachbarschaftsartikel, geregelt. In ihnen ist von der Verantwortung die Rede, die die Nachbarn füreinander tragen, und von den Diensten, die sie einander schuldig sind. Diese Statuten wurden auf dem alljährlich stattfindenden >>Sitt- oder Richttag<<, meist am Aschermittwoch, bei geöffneter Nachbarschaftslade vorgelesen, danach Gericht gehalten, Strafen verhängt und Bußen geregelt. Dieser Tag war ein Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens, in manchen Orten wurde tagelang mit Umzügen, Maskierungen, Mummenschanz und Festgelagen gefeiert.  Es war >>die Zeit, wenn die Sachsen überschnappen<<, pflegten die Ungarn zu sagen. Zu den regelmäßigen, von den Artikeln vorgeschriebenen Versammlungen durften nur Männer, also die Nachbarn, erscheinen, aber an geselligen Unterhaltungen der Nachbarschaft nahmen alle übrigen Hausbewohner teil.

Jeweilige >>wandernde<< Nachbar(schafts)zeichen, meist aus Holz oder Messing schön geschnitzt, graviert oder gegossen und mit Inschriften oder Figuren versehen, stellten die Verbindung von Familie zu Familie her. Mit ihrer Hilfe wurden Anordnungen des Nachbarschaftshannen reihum verlautbart oder zu einer Versammlung eingeladen. Wer das Zeichen bekam, mußte es so rasch wie möglich samt der mündlichen oder schriftlichen Nachricht dem nächsten Nachbarn weitergeben.

Faßte man in den Städten die Nachbarschaften nach naheliegenden Straßenzügen zusammen, so teilte man die Dörfer zumeist in zwei bis sechs Nachbarschaften auf. Nicht nur in der Stadt, auch auf dem Land unterschied sich das Nachbarschaftsleben von Ort zu Ort.
Die ersten urkundlichen Erwähnungen von Nachbarschaften fallen in die Jahre 1533 (Kronstadt), 1563 (Hermannstadt) und 1601 (Schäßburg). Durch einen Erlaß des ungarischen Innenministeriums verlohren die säschsischen Nachbarschaften 1891 ihre rechtliche Funktion. Unbeschadet dessen setzten sie ihre Tätigkeiten fort. In den Dörfern Siebenbürgens besteht heute noch eine nicht institutionalisierte Nachbarschaft, die das Brauchtum pflegt und nachbarschaftliche Hilfe leistet. Auch im Westen etablierten sich bei den Aussiedlern vereinzelt Nachbarschaften, die jedoch nach den schwierigen Aufbaujahren nach 1945 heute weitgehend gesellschaftliche Aufgaben erfüllen.

 

Scola Acker-Sutter, Dorfleben der Siebenbürger Sachsen, Verlag Callwey München 1991, S. 113 – 114.

 

Die sächsische Gemeinde in Leschkirch war in drei Nachbarschaften aufgeteilt: die Ober-, die Nieder- und die der Neu- und Leichengässer. Sie sind bis Ende der 80ger Jahre ihren nachbarschaflichen Pflichten beispielhaft nachgegangen.

Als Regina Müller, die letzte zurückgebliebene sächsische Bewohnerin in Leschkirch, 2006 starb, wurde sie von einer Nachbarschaft aus Alzen beerdigt.

 

Die nachbarschaftlichen Bräuche und deren Organisation wurden in Leschkirch in ähnlicher Form von der rumänischen Gemeinde übernommen. Die Existenz dieser Nachbarschaften ist schon ab 1850 urkundlich belegt. Sie haben die dunkle Zeit des Kommunismus überlebt und sind in Leschkirch bis zum heutigen Tage aktiv. In ihnen sind auch viele Romafamilien voll integriert.

Über die rumänischen Nachbarschaften in Leschkirch/Nocrich berichtet folgender Artikel aus der Zeitung Tribuna: Obiceuri si datini -„Vecinatatile“. (Rumänische Nachbarschaften in Leschkirch)    http://www.tribuna.ro/stiri/cultura/obiceiuri-si-datini-vecinatatile-68765.html

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