Der letzte sächsische Stuhlrichter


Als Dr. Andreas Thudt vor zehn Jahren, am 7. Mai 1988, starb, wurde mit ihm „ein Stück heimatlicher Geschichte zu Grabe getragen; er war gewiß der letzte ehemalige sächsische Stuhlrichter“. Die Beerdigung in Hermannstadt fand nach Alzner Brauch „mit Aussegnung zu Hause und in Alzner Mundart gesprochenen Dankesworten“ statt. Andreas Thudt wurde vor hundert Jahren, am 5. Mai 1898, als Sohn des Alzner Landwirten und Churschmieds Johann Thudt geboren. Den Rat des Pfarrers Heinrich Schuster, dem lernbegierigen Knaben ein Studium zu ermöglichen, befolgten die wohlhabenden Eltern. Mitten im Ersten Weltkrieg wurde der junge Mann 1916 zum Wehrdienst eingezogen, den „Honveds“, dann dem k.u.k. Infanterieregiment Hermannstadt zugeteilt und zur Offiziersausbildung nach Brünn-Königsfeld abkommandiert. Es folgten Kasernenaufenthalte in Semlin sowie Zagreb und schließlich der Fronteinsatz am Isonzo, wo Thudt 1917 verwundet und gefangengenommen wurde. Eine Operation ohne Narkose in Udine überstand er tapfer, kam durch Gefangenenaustausch frei und gelangte über die Schweiz, Österreich und das Banat ins Elternhaus nach Alzen. Ab 1918 folgte das Jurastudium in Klausenburg Thudt mit dem Lizentiat abschloß. Die weiteren Stationen seiner beruflichen Laufbahn: Verwaltungspraktikant in Hermannstadt, Stuhlrichter in Reußmarkt, dann Mühlbach. Dem jungen, unerfahrenen Sachsen wurde in der Administration Großrumäniens, wo Gesetze oft sehr unterschiedlich interpretiert wurden, die Arbeit oft erschwert; seine Tüchtigkeit und Gradlinigkeit allerdings mußten durch die Vorgesetzten dennoch anerkannt werden. Da die Beförderung in die Leitungsposten der Komitate und Bezirke allzuoft aufgrund nationaler Zugehörigkeit erfolgte, sah sich Thudt schließlich veranlaßt, seine Aufnahme ins Advokatenkollegium des Hermannstädter Komitats zu beantragen:1928 übernahm er in Leschkirch eine Anwaltskanzlei und erwies sich bald als ein guter, vertrauenswürdiger Verteidiger seiner Mandanten, oft zum Ärger der Richter. Ein wachsames Auge hatte Thudt auch für das öffentliche Geschehen im Marktort So deckte er 1929 anläßlich der Berufung des Ortsrichters einen Wahlschwindel auf, so daß der sächsische Kandidat rechtmäßig ins Amt eingeführt werden konnte. Auf Thudts Frage an den rumänischen Bezirksvorsteher, was diesen zu der Fälschung bewogen habe. soll der Beamte geantwortet haben:“Ich habe es meiner Nation zuliebe getan.“ Thudt setzte sein Fachwissen wiederholt zum Wohle der sächsischen Gemeinschaft ein, zu der er sich stets bekannte, und sprang auch unaufgefordert den Landsleuten mit juristischen oder finanztechnischen Ratschlägen bei, allzu oft nur gegen ein „Vergelt’s Gott!“. Seine 1924 in Mühlbach mit der Lehrerin Elise Schneider geschlossene Ehe wurde mit zwei Töchtern-Anneliese und Rosemarie-gesegnet, von denen die zweite jedoch schon im Babyalter starb. Die politischen Entwicklungen im Siebenbürgen der zwanziger und dreißiger Jahre machten auch vor Leschkirchs Toren nicht halt. Die Meinungsunterschiede zwischen der “Volksgemeinschaft”, dem gemäßigten Flügel der “Erneuerer” unter Fritz Fabritius, im Marktort vom Apotheker Arthur Maurer angeführt, und den radikalen “Erneuerern” unter Alfred Bonfert, in Leschkirch durch Thudt führend vertreten, führten zur Spaltung der örtlichen sächsischen Gemein­ schaft, doch nicht zu Saalschlachten wie andernorts. Den stressigen Alltag glättende Abwechslung brachten jedoch die vom vielseitig gebildeten Arzt Emil Brestowsky veranstalteten “Leseabende”, an denen Thudt regelmäßig teilnahm, wobei der Rechtsanwalt Konrad Brandsch, ein Vetter des Abgeordneten Rudolf Brandsch, sowie der Notär Michael Wonner mit ihren Ehegattinnen und nicht selten Gäste aus Hermannstadt, unter ihnen auch der Schriftsteller und Komponist Wolf von Aichelburg, ein Freund Brestowskys, zur Gesprächsrunde gehörten. Ab Herbst 1944 mußte Thudt wie alle Sachsen den Weg der “Entehrung und Entbehrung” gehen. Zwei Jahre lang lernte er die Internierungslager Tirgu Jiu, Tirgu Magurele und Slobozia Veche kennen, wurde danach nicht mehr in die Anwaltskammer aufgenommen und mußte sich auf Broterwerbsuche begeben. Als Versicherungsagent konnte er schließlich die Familie über Wasser. halten und das Studium seiner Tochter, der Sprachwissenschaftlerin Anneliese Thudt, notdürftig finanzieren. Nach seiner Pensionierung 1959 wurde er erneut verhaftet und als “Aufwiegler gegen . die soziale Ordnung” verurteilt. Erst 1963 kam er frei und zog in das von der Tochter in Hermannstadt käuflich erworbene Häuschen. Mit den Jahren wurde es dort immer stiller, die Zahl der gleichaltrigen Freunde nahm ab. Lediglich die Spaziergänge durch die vertrauten Straßen von Hermannstadt und Urlaubstage im Pfarrhaus zu Rohrbach brachten etwas Abwechslung. Mit der Verschlechterung des Sehvermögens waren es Rundfunksendungen, die Thudts immer noch regen Geist auf dem laufenden hielten. Die liebevolle Pflege durch die Tochter war ihm und seiner erkrankten Frau von großer Hilfe. Zwei Jahre nach der Gattin wurde auch Andreas Thudt heimberufen. Die Tochter schrieb danach: “Nun ruht er in Frieden und im Licht, von allem Ballast, den ihm das Leben auferlegt hatte, befreit.”

von Michael Edling
© Copyright 2011 leschkirch nocrich im dialog - Impressum