Heimat – aus der Sicht einer Nachgeborenen


Wenn ich an meine frühe Kindheit denke, an die Jahre, in denen wir, ausgebombt, in großer Armut lebend, zunächst von Bekannten zu Bekannten zogen, bis wir endlich in einer dunklen, kalten und engen Wohnung unterkammen, gab es für mich bei aller äußeren Not neben der elterlichen Liebe eine Quelle, von der Wärme und Licht  ausging, die siebenbürgisch-sächsische Sprache, die wir inmitten einer fränkischen Umgebung beibehielten und die mir ein Gefühl von Geborgenheit, Dauer und  Glanzheitlichkeit gab.
Dazu kamen die Gespräche der Eltern und Verwandten, in denen fast magisch-beschwörend immer dieselben Namen auftauchten, Namen von Personen, Straßen, Orten, die ich nicht kannte und nie kennenlernen würde, die gleichwohl in meiner Phantasie reale Gestalt gewannen, sich mit Haltrichs Märchen, den Geschichten vom Tschiripik mischten oder auch mit Liedern wie dem Hontertstroch oder Gedichten aus der „Sachseschen Wält“.
Im Zusammenspiel mit sächsischen Stickereien, Krügen, Briefen, Photos wurden sie Boten einer Welt, in der die Berggasse in Hermannstadt und die Buchhandlung mütterlicherseits mit all ihren kostbaren Erstdrucken oder den vielen Musikinstrumenten in Konkurrenz zu den Lehrer- und Pfarrerhäusern väterlicherseits traten, in der einerseits ungarische Dienstmädchen, schlitzohrige Zigeuner und rumänische Bauern herumgeisterten, andererseits Literatur, Kunst und besonders Kirchenmusik eine große Bedeutung hatten.
In der kindlichen Vorstellung war dies alles viel schöner als die mich real umgebende Wirklichkeit, doch mit dem wahren Siebenbürgen, das ich erst im Erwachsenenalter und auch nur zwei Wochen besuchen sollte, hatte es sicher nichts oder nur wenig gemein.
Später, als wir endlich in eine bessere, freundliche Wohnung umgezogen waren, wurden diese frühen Eindrücke der Kindheit durch andere überlagert, gerieten in Vergessenheit. Tatsächlich habe ich aber den Dialekt, der in meinem „Heimatort“ gesprochen wurde, nie angenommen und habe auch dort nie richtig Wurzeln geschlagen.
War das, was ich als „Heimat“ empfand, also für mich nichts anderes als Phantasiewelt, eine Fluchtburg, ein Arkadien, das mich die bedrohlich empfundene Umwelt vergessen und ertragen ließ?
Und doch ist es so, daß mich jetzt in der Lebensmitte, in einem Alter, all dort, wo sächsisch gesprochen wird, wo kirchliche Lebensformen, Musik und Gesang tragende Bedeutung haben, ein Glücksgefühl überkommt, das Gefühl, nach Hause zurückzukehren, ja zu Hause zu sein.
Ob diese Form von Heimat, die als ein Bündel von Erinnerungen von einer Generation auf die nächste übertragen wurde, gleichzusetzen ist mit einem geographisch und historisch genau lokalisierbaren Heimatbegriff, wage ich nicht zu sagen; wenn ich aber von ihrer Funktion ausgehe, nämlich Geborgenheit und Identität mit sich selbst zu garantieren, spüre ich doch immer wieder deutlich, daß mein wahres Zuhause in der siebenbürgisch-sächsischen Sprache und dem kulturellen Erbe liegt, das mir meine Eltern, Verwandten und Freunde überliefert haben und noch ständig neu vermitteln.

von Hildegard Chatel, Jahrbuch 1991, Siebenbürgisch-sächsischer Hauskalender, 36. Jahrgang, herausgegeben von Wieland Graef, Selbstverlag des Hilfskomitees der Siebenbürger Sachsen im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, Himmelreichstraße 4, 8000 München 22, S. 87 – 88.
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