Hilde Domin, Heimat


„Unverlierbares Exil, du trägst es bei dir, Wüste, einsteckbar“,  habe ich irgendwann geschrieben, als ich schon wieder in Heidelberg ansässig war. Heimat, der Gegenpol zum Exil? Nein, das ist nicht richtig: Das Exil ist der Gegenpol, die Negation. Heimat wäre das Selbstverständliche, wenn sie selbstverständlich wäre. Es ist kein Zufall, daß ich, wenn ich von „Heimat“ reden soll, mit dem Exil beginne. Als sei es Ersatzheimat. Gerade ich. Und das tue ich nicht, weil Exil ein „erlaubtes“ Wort ist, ja geradezu ein Modewort, während Heimat mit Vorsicht ausgesprochen wird, fast ein tabuisiertes Wort. Jemand wie ich hält sich ohnehin nicht an derlei „Verbote“. Und schon gar nicht, was die Sache Heimat und also auch das Wort Heimat angeht. „Etwas, was allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“, sagt Bloch. Ebensogut hätte er „Paradies“ sagen können. Er meint die Unvertreibbarkeit, die Geborgenheit von Anbeginn. Das Dazugehörendürfen, diesseits des Zweifels. „Mann kann sein Vaterland lieben und achtzig Jahre dabei werden und es nicht gewußt haben. Aber man muß dann auch zuhause geblieben sein“, erklärt Heine. „Das Wesen des Frühlings erkennt man erst im Winter. Und so beginnt die deutsche Vaterlandsliebe erst an der deutschen Grenze.“

Hier sind schon Stichworte gefallen. Fast zu viele. Das erste – das, mit dem ich zu sprechen angefangen habe – war „unverlierbar“. Das Unverlierbare, das sich als so verlierbar erwiesen hat. Und von dem, seither, man schon weiß, daß es auf Widerruf ist. „Vaterland“? Ich will lieber von Mutterland reden, dem Land meiner Herkunft, dem Land meiner Sprache.

„Vaterland“, sagte kürzlich ein berühmter Sprachwissenschaftler, „eine Übersetzung aus dem Lateinischen. Das Wort wird bei uns vielleicht in Vergessenheit geraten, es ist so diskreditiert.“ Mutterland: das war früher die Metropole, von der Kolonie her gesehen. Daran denkt man schon nicht mehr, wenn man das Wort gebraucht. Ich nicht. Und ich habe es bei andern versucht, keiner dachte daran. Das Land der Geburt. Muttersprache. „Die Muttersprache ist die Sprache der Mutter, soweit die Mutter die Sprache des Ambientes spricht“, sagte der Linguist zu mir. Aber das tut sie ja normalerweise. Muttersprache ist die Sprache der Kindheit.

Für mich ist die Sprache das Unverlierbare, nachdem alles andere sich als verlierbar erwiesen hatte. Das letzte, unabnehmbare Zuhause. Nur das Aufhören der Person (der Gehirntod) kann sie mir wegnehmen. Also die deutsche Sprache. In den andern Sprachen, die ich spreche, bin ich zu Gast. Gern und dankbar zu Gast. Die deutsche Sprache war der Halt, ihr verdanken wir, daß wir die Identität mit uns selbst bewahren konnten. Der Sprache wegen bin ich auch zurückgekommen.

Es war eine der Aufregungen des Lebens, wieder nachhause zu kommen. In das Land der Geburt, wo die Menschen deutsch reden. Vielleicht, ja sicher war es noch aufregender als das Weggehen, damals. Dazwischen lag das Exil, das Nicht-Dazugehören, eine Erfahrung, die man erst stückweise vollzieht, man sieht sie nicht als Ganzes vor sich. Erst beim Gehen merkt man, wie vertrackt der neue Zustand ist, wie „un-heimlich“.

Wenn ich die Fliehenden im Fernsehen sehe, alle, die auf den Treck gehen, alle, die sich noch an Flugzeuge hängen, um eine Station weiterzukommen, dann weiß ich schon, wie fragwürdig die Auskunft ist, dann brauche ich auf den nächsten Bericht, eine Woche, einen Monat später, gar nicht erst zu warten.

Ich habe sie ja selbst erlebt, die „permanente Flucht“. Und ich hatte das Glück, nicht eingeholt zu werden, als ich weit genug gelaufen war, ich durfte sogar zurückkommen, vom Rande der Welt. Nachhause gehen.

„Sie reden von Heimat“, sagte damals Enzensberger, das war Anfang der fünfziger Jahre. „Dazu sind Sie über die Meere gefahren, um uns damit zu kommen. Alles doch nur eine Frage der Kulisse“.

Das schien ihm so, die Kulissen hatten sich ja auch für die Zuhausegebliebenen sehr verwandelt.

Zuhausesein, Hingehörendürfen, ist eben keine Frage der Kulisse. Oder auch des Wohlergehens. Es bedeutet, mitverantwortlich zu sein. Nicht nur Fremder sein. Sich einmischen können, nötigenfalls. Ein Mitspracherecht haben, das mitgeboren ist.

Dabei ist der Verlust der Zugehörigkeit eine Verwundung, die nie ganz vernarbt. „Das Zuhause hat einem nicht weh zu tun wie ein Hexenschuß oder ein hohler Zahn.“ Das tut es aber doch, bei jedem Anlaß. Und diese Anlässe häufen sich in den letzen Jahren. Die exemplarische Vertreibung, exemplarisch wie die der Ureltern, da lernt man alles, schlechthin alles, über das Menschsein, und über das „Ein-flüchtiger-Gast-sein“. Das ist dann keine Metapher, wie man sie von der Kanzel hört.

Wie das Zuhause die Liebe, sobald man gelernt hat, daß sie vielleicht auf Widerruf ist. Die Liebe, fast so tabuisiert wie die Heimat. Wer „in“ ist, spricht nur von Sex. Obwohl, das hat sich geändert. Liebe ist wieder gesellschaftsfähig geworden. Über Heimat wird schon diskutiert. (Sie hat unterdes das Odium des Militanten verloren, das die Bünde der Heimatvertriebenen ihr gegeben hatten.) Bisher wurde das allenfalls Menschen wie Bloch, wie Nelly Sachs, wie mir zugestanden. Jetzt ist es ein Thema geworden. Wir leben ja in einer Krise der Zugehörigkeiten. Auch in einer Sprach- und Sprechkrise. Der Kommunikationskrise, der Identitätskrise. In der Nicht-Heimat. Leichfertig wird oft mit diesen Begriffen Ball gespielt. Wer das wirklich gelebt hat, wer traumatisiert ist, ist dagegen widerständig. Die Sprache, in der ich die Welt gewissenhaft benenne, gewissenhaft mitteilbar mache (und auch so mitteile, dass ich gehört werde), die kann nicht wegnehmbar sein, sie ist die äußerste Zuflucht. Dieses Zuhause verteidige ich bis zu meinem letzen Atemzug. Wie früher ein Bauer seine Scholle. Ich kann gar nicht anders.

Alles, was ich verteidige, wo ich geh und steh, ist nicht diesseits, sonder jenseits des Zweifels. Den Apfel der Erkenntnis hat man uns die Kehle hinuntergestoßen, das ist nicht rückgängig zu machen. „Was hätten wir davon, wenn wir heute vierzig wären und hätten diese Wunde nicht! “ schrieb mir kurz vor seinem Tode Grieshaber. Könnten wir nur die junge Generation mit unseren Tränen impfen.

1982

Lust am Denken, Herausgegeben von Kristin Rotter und Katharina Wulffius, Piper Verlag GmbH, München 2011, Seite 81-84.
© Copyright 2011 leschkirch nocrich im dialog - Impressum