Auf sie ist Verlass: Kuratorin Rosi Müller


Rechts ist unter den zartgrünen Eichen der Waldboden mit Buschwindröschen übersät, links leuchten die schneebedeckten Fogarascher, davor prangt in der Abendsonne eine sächsische Kirchenburg, Holzmengen. Achtung, wieder ein Schlagloch! Nein, nicht bloß Löcher, die Straße hat sich ganz aufgelöst. Ich muss mich sehr konzentrieren, wenn ich ohne Schaden die 35 km von Alzen nach Hermannstadt überstehen will. Die Landschaft bewundern und gleichzeitig lenken, das geht nicht. Und dabei gehen meine Gedanken auch ständig zu der Person, mit der ich mich die letzten eineinhalb Stunden unterhalten habe. Ich spüre ein Dilemma auftauchen: Wie kann ich eine Frau loben, die es verdient, aber nicht mag, gelobt zu werden? Die zugleich so tüchtig und so bescheiden ist! Dabei ist ihre Bescheidenheit so echt, dass sie nicht einmal sagt, dass sie nicht gelobt werden will. Es ist einfach nur zu spüren: Was sie tut, tut sie gern und sehr gut. Darüber braucht man keine großen Wort zu verlieren. Es ist aber auch keine falsche Bescheidenheit, die den Einsatz herunterspielt und klein macht. Wie kann ich das unseren Leserinnen und Lesern vermitteln?

Wochentags und feiertags – immer im Einsatz

Wir trafen uns am 17. April, Sonntag Nachmittag, in der freundlichen Küche im Haus 54 in Alzen, in dem Rosi Müller lebt. Seit dem Tod ihres Vaters alleine. Kuratorin Müller war gerade aus Agnetheln zurückgekommen. Hier wurden am Palmsonntag sechs Jugendliche konfirmiert, eine bunte Schar, könnte man sagen: ein Mädchen in Probstdorfer Tracht, ein Mädchen mit Romaherkunft, ein behindertes Mädchen, einige aus Agnetheln, zwei von Gemeinden des Haarbachtals: Probstdorf und Alzen. Als Alzener Kuratorin war Frau Müller zur Prüfung und Konfirmation nach Agnetheln eingeladen worden, wo eben auch ein Alzener Konfirmand zu der von Pfarrer Reinhard Boltres betreuten Gruppe gehörte. Das Fest war alles in allem erfreulich, meint Frau Müller, und nimmt sich auch noch für mich Zeit. Tags zuvor, am Samstag, war sie bei einem Fortbildungskurs gewesen. Und wochentags unterrichtet Rosi Müller 13 Kinder, die aus vier Ortschaften kommen, simultan in drei Klassen: die deutsche Abteilung der Alzener Schule. Mein Trost ist, dass auf den Palmsonntag Schulferien folgen, sodass die Lehrerin doch auch ein paar Stunden wird entspannen können. Außer dass Handwerker kommen werden, im Wirtschaftshof einen Raum fertigzustellen, in dem der Backofen steht. Die Gäste, die für Ostern kommen, planen da Brot und Hanklich zu backen, also müssen die Arbeiten zügig vorangehen. Die drei Dutzend Hennen und Hähne müssen auch versorgt werden. Nur den Gemüsegarten hat Frau Müller delegiert. Dafür hat sie keine Zeit und darf auch aus Gesundheitsgründen einige Arbeiten nicht tun.

Kuratorin in der Diaspora – anfangs ungewohnt

In Rosemarie Müllers Kindheit hatte die 600-Seelen-Gemeinde einen eigenen Pfarrer gehabt und würdige Kuratoren, die der Gemeinde gewissenhaft vorstanden. 1985 zog der letzte Alzener Pfarrer fort, Roland Buchholzer, das Pfarrhaus steht leer. Die pfarramtliche Betreuung der Gemeinde übernahm der Pfarrer aus dem nahe liegenden Leschkirch. Bis dieser 1990 auswanderte. Pfarrer Kummer aus Holzmengen übernahm die seelsorgerliche Betreuung. Schließlich wurde der Bezirk für Alzen zuständig, und Bezirkskirchenkurator Friedrich Philippi und der Hermannstädter Pfarrer Siegfried Schullerus kümmerten sich um die klein gewordenen Gemeinden im Haarbachtal. Heute zählt die evangelische Gemeinde in Alzen 68 Personen, die in einer Nachbarschaft zusammengefasst sind. Dieses Schrumpfen und organisatorische Umstrukturieren, die Anbindung an immer weiter entfernt liegende Pfarrämter und letztlich an den Bezirk sind Zeichen der Diasporaisierung. Einige Jahre waren Pfarrer Dietmar Schmidtmann und Pfarrer András Bándi für Alzen zuständig, keiner wohnte jedoch in der Gemeinde. 1994 waren in Alzen Wahlen für das Kuratorenamt. Pfarrer Schullerus sprach Frau Müller an, sich als Kandidatin zur Verfügung zu stellen. Eine gänzlich neue Vorstellung. Kurator: Das waren immer altehrwürdige Männer. Eine Frau, damals Anfang Dreißig, soll Kurator sein? Geht das überhaupt? (Zum Vergleich: Wenn ein Papst gewählt werden soll, denken alle gleich an einen alten Mann und nicht an eine junge Frau.) Die Lehrerin Rosi Müller sagte zu und wurde gewählt. Es dauerte eine Weile, bis das Bewusstsein, »dies ist unsere Kuratorin «, auch in allen Bereichen wirksam wurde. Dass zum Beispiel der Nachbarschaftsvater das Putzen am Friedhof nicht nur im Dorf ansagte, sondern auch der  Kuratorin mitteilte. Überhaupt muss die Kommunikation gut funktionieren, damit das Gemeindeleben gut funktionieren kann, sagt Kuratorin Müller. Gerade da, wo kein Pfarrer vor Ort ist, sind Kurator oder Kuratorin die Ansprechperson.

Rund ums Jahr, rund um die Uhr

Rosi Müller hat festgestellt: Das Kuratorenamt fängt am ersten Januar an und hört am 31. Dezember auf. Und rund um die Uhr ist die Ansprechperson gefragt. Rosi Müller wird ganz Verschiedenes gefragt und gebeten. Zum Beispiel hat sie, da sie schon vor der Wende eine Schreibmaschine besaß, für viele Familien Formulare ausgefüllt, die (umgangssprachlich »Ahnenpass« genannten) Auszüge aus den Matrikelbüchern geschrieben, sie hat den ehemaligen Russlanddeportierten geholfen, die Anträge für Rente zu verfassen und so weiter. Eine Arbeit, die viel Zeit nimmt, aber auch Menschen in Verbindung miteinander bringt und ihnen hilft. Ihre Hilfe wird immer wieder in Anspruch genommen, Rat und Tat sind gefragt. Mit ihrem kleinen Auto hat Rosi Müller schon viele Gemeindeglieder zum Arzt nach Hermannstadt gefahren, Menschen im Krankenhaus besucht und wieder abgeholt. Eigentlich ist sie nicht nur Kuratorin, sondern auch Gemeindehelferin und Diakoniebeauftragte. Und das alles ehrenamtlich und in der Freizeit.

Übergemeindliche Verantwortung

Seit rund zwölf Jahren ist Rosemarie Müller Mitglied im Bezirkskonsistorium. Vier Sitzungen im Jahr fallen da an. Seit November 2010 ist Rosi Müller Mitglied des Landeskonsistoriums (LK), des Exekutivkomitees der Landeskirchenversammlung und damit unseres wichtigsten kirchenleitenden Gremiums. Bei der Wahl ins Landeskonsistorium waren eine Reihe von Kandidaten vorgeschlagen worden. Prof. Hans Klein gab zu bedenken, dass keine Frau nominiert worden war. Erst dann kamen auch Vorschläge für Frauen. Bei der Wahl der zwölf Mitglieder ergab es sich schließlich, dass Rosi Müller ins Landeskonsistorium gewählt wurde. Gäbe es nichtmdie Vorschrift, dass bei Stimmengleichheit für den letzten Platz die ältere Person Vorrang hat, so wäre auch eine zweite Frau ins Landeskonsistorium eingezogen. Von »Quotenfrau« kann man da überhaupt nicht sprechen. Sonst hätte es viel mehr Plätze geben müssen. Immerhin gab es einen Wunsch nach Ausgeglichenheit, und so ist jetzt auch weiterhin wenigstens eine Frau im Landeskonsistorium. Ein Landeskonsistorium ohne Frauen würde unserer kirchlichen Realität einfach nicht gerecht. Innerhalb des Landeskonsistoriums wurde Frau Müller Beauftragte für Fragen der Frauenarbeit und damit automatisch Mitglied im Vorstand der Frauenarbeit unserer Kirche.

Überschneidungen

LK-Mitglied Rosi Müller bedauert, an der Vollversammlung der Frauenarbeit am 30. April nicht teilnehmen zu können, weil da schon ein lang geplanter Schulausflug stattfindet und sie ihre Schulkinder auf keinen Fall im Stich lassen möchte. Oft ist es schwer, die verschiedenen Aufgaben alle unter einen Hut zu bekommen. Am Neujahrsempfang des Bischofs konnte Rosemarie Müller nicht teilnehmen, da sie zu dieser Uhrzeit ihren Schulunterricht hielt. Auch die 11-Uhr- Besprechungen beim Bezirk sind für sie außerhalb des Machbaren. Weil die andern 15 Lehrkräfte der Alzener Schule alle(!) von Hermannstadt aus pendeln, ist sie die einzige vor Ort und hat deshalb auch die Schulbibliothek übernommen. Von Montag bis Donnerstag hält sie auch Nachmittagsschule, freiwillig, bei sich zu Hause.

Viel zu organisieren und planen

Da nur jeden zweiten Sonntag Gottesdienste gehalten werden und Gemeindeglieder aus Marpod und Holzmengen dazukommen, sind gute Absprachen mit den Ansprechpersonen der anderen Gemeinden und dem Bezirk absolut notwendig. Viel Mühe macht es, Pfarrvertretungen zu organisieren und alle Termine zu koordinieren, zum Beispiel für Beerdigungen, und dann alle Leute zu verständigen. Früher hat die Benachrichtigung durch die Nachbarschaften gut funktioniert, heute geschieht die Verständigung per Telefon.
Auf Ostern freut sich die Gemeinde schon. Professor Stefan Tobler, Direktor des Departements für protestantische
Theologie an der Blaga-Universität in Hermannstadt, wird zum Gottesdienst nach Alzen kommen. Auch die traditionelle Osterbegleitung des Pfarrers wird gehalten werden: Im feierlichen Zug, mit Kinderspalier, begleitet die Gemeinde den Pfarrer nach dem Ostergottesdienst zum Pfarrhaus. Hier hält der Kurator – nun die Kuratorin – eine Rede, und der Pfarrer antwortet. Die Kinder erhalten Süßigkeiten. Dass dies alles vorbereitet wird, dafür ist natürlich die Kuratorin zuständig. Und die Kinder freuen sich auch schon. Wie auch zu Weihnachten auf das Krippenspiel und die Päckchen. Auch ehemalige Schülerinnen und Schüler der Alzener deutschen Schule kommen mit großer Treue und Begeisterung und feiern mit. Dass dann in einer so kleinen Gemeinde über 30 Kinder Weihnachtslieder singen, ist schon etwas Besonderes.

Augen offen halten

Vieles, was früher Männerarbeit in der Gemeinde war, muss nun auch die Kuratorin wahrnehmen: Wo ist am Pfarrhaus eine Dachziegel locker geworden, wie sehen die Dachrinnen aus, wo muss wieder etwas renoviert werden? Mit dem Kirchenrat gibt es da eine sehr gute Zusammenarbeit, stellt die Alzener Kuratorin dankbar fest. Was die ruhige Frau Müller aufregen kann, das ist, wenn Leute ihre Versprechen nicht halten oder verbindliche Abmachungen versäumen. Und respektloses Betragen, das empört sie auch. Da wird ihre unglaubliche Geduld auf die Probe gestellt. Eine Probe, die sie dennochbesteht.

Eine gern besuchte Gemeinde

Sogar ein Film wurde über das Leben im Müllerschen Bauernhaus und in der Gemeinde gedreht. Eine luxemburgische Kulturanthropologin wählte sich – wohl wegen der Vorgespräche mit der Kuratorin – gerade dieses Fleckchen Erde aus, um hier den Menschen und Büffeln über die Schulter zu sehen. Im Kulturhauptstadtjahr 2007 wurde dieser Film von Anne Schilz am Kleinen Ring in Hermannstadt gezeigt. Partnergemeinden kommen regelmäßig zu Besuch, aus Frömern jedes zweite Jahr. Pfarrer Walther Huber war mit einer bayrischen Gustav-Adolf-Vereinsgruppe da, die siebenbürgisch-sächsische Tanzgruppe aus Traun in Österreich kommt jeden Herbst zu Besuch. Allen schmeckt der Imbiss im Pfarrhof mit »evangelischemmSpeck«. Die Gästegruppen beleben das Gemeindeleben sehr. Auch finden häufiger Gottesdienste statt, wenn ehemalige Alzener Pfarrer in den Sommermonaten freiwillig aushelfen. Letztes Jahr brachte ein Laudate-Konzert des Hermannstädter Bachchores und anderer Chöre Musikliebhaber aus vielen Orten in Marpod und Alzen zusammen.
Manchmal gibt es auch Orgelkonzerte. Im Mai wird eine österreichische Frauengruppe zu Besuch kommen, und am 15. Mai feiern die Alzener in Hermannstadt den Festgottesdienst der »Donaufriedenswelle « mit dem Hermannstädter Bezirk und vielen Gästen mit.
Die Haarbachtaler Diasporagemeinde ist in guten Händen. Der seit 17 Jahren bereits mehrfach wiedergewählten Kuratorin Rosi Müller sei gute Gesundheit und weiterhin geduldige und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Menschen jeder Altersstufe gewünscht. Gottes Segen der ganzen Gemeinde!

von Gerhild Rudolf in Kirchliche Blätter, Monatsschrift der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien, Mai 2011 – NR 5 / 39. (77) Jahrgang
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