Licht und Schatten, Leschkirch 1984


 

 

Licht und Schatten meiner Kindheit

Jahreszeiten, dazwischen der dünne Straßenstaub, klumpige gelbbraune Erde.

Nach dem Regen barfus auf die Straße laufen, ich springe über Pfützen, drin verzerrte Spiegelbilder der alten Wehrtürme. An manchen Tagen wächst das Gras bis an Gottes Tür, Akazienblühten parfümieren sein verstohlenes Lächeln.

Hinter unserem Tor unrasierte trunkene Männer, singend schaukeln sie sich in den müden Himmel. Ein Zigeuner trägt unter seinem Arm eine Bratsche. Die Seiten sind gerissen, sein Hut ein Heuschober mit Vogelscheuche. Manchmal sind sie grausam, aber nie unfreundlich oder gleichgültig.

Im Herbst umhüllt und umarmt der dichte Nebel das ganze Dorf. Das Knallen der Peitschen zerschneidet ihn wie ein scharfes Messer.

Das Begräbnis der Großmutter, ein Traum im Niemandsland. Der Baß der Bläser schlägt Löcher in den Himmel. Ihr Grab, ein Betondeckel mit abgerundetem moosbewachsenem Grabstein.

Bellende Hunde, und die Neugier der Nachbarn, Zigeuner schleppen Säcke mit leeren Flaschen hinter sich her. Barfuß laufen ihnen die Kinder nach. Das Kind will nicht erwachsen werden, ein Mann prügelt seine Pferde mit der Mistgabel.

Die Angst vor einem Schuster namens Gulimann; von seinem Sohn lerne ich meine ersten rumänischen Schimpfwörter.

Großmutter erzählt Witze und erinnert sich an Vergangenes, ihre Geschichten sind wahre Liebe für Menschen mit all ihren Schwächen.

Sonntagsgeräusche, Langeweile, der Geruch verwaister Haustiere. Vögel spinnen unsichtbare Netze in den Himmel. Der Glockenklang zerschlägt den Mittagstraum.

 

 

In jedem Dorf eine Kirchenburg…

Die Pfade, die dahin führen, eine gerade Linie durch das Labyrinth der Gedanken.

Die kühlen Schatten der alten Wehrtürme schlängeln sich durch das ganze Dorf. Am Abend verschlingt der dicke Speckturm das rotglühende Sonnenrad. Der Bau ist schlicht, die Angst und die Not waren die Baumeister, die Fenster so eng, daß man die Sonnenaufgänge fast verpaßt. Die Feuchtigkeit malt Phantasiebilder auf das alte verfallene Gemäuer.

In meinem Traum rege Tätigkeit, man repariert und renoviert, ich entdecke verborgene dunkle Räume mit zauberhaften Wandmalereien und wertvolle alte aus Gold geschmiedete Kelche. Die Kirchenburg ist ein in die Landschaft geworfenes verzerrtes Viereck, übermächtig mit tiefen dunklen Augen. Sie ist das Mandala meiner Seele. An jeder Ecke lauern Zaubersprüche, verstorbene Seelen sonnen sich auf den Dachziegeln der steilen Dächer. Ab und zu pfeift der Wind durch den Glockenturm, dann hört man das verzweifelte Jammern der Stille. Geblieben sind nur die Nachkömmlinge der alten Taubennester. Der Gott der Sachsen irrt verwaist durch die verstaubten Spinnweben, er ist zu stolz um dem Ruf der spielenden Kinder zu folgen, seinen Auftrag hat er noch nicht erfüllt, vor seinem Anblick ziehen die Zigeuner ihren Hut tief in die Augen.

Ich träume mich zurück in die allzubunten lärmenden Straßen meiner Kindheit, doch bald dämmert es, und jemand weint vor Freude. Bin ich zu Hause? Dann verschwinden ganze Straßenzüge und der Dorfplatz wird mit roten Steinen gepflastert. Davor die Kirche ein prächtiger Barockbau mit bizarren Marmorsäulen.

Ein alter Rumäne hat mich erkannt, er grüßt, und dann meint er ganz erstaunt: „So aufgeräumt war das Dorf noch nie, auch nicht als dein Vater noch da wohnte“. Dann kehrt er mir den Rücken und murmelt in seinen grauen Bart: „Warum sind wir denn alle so feige?“

 

 

Sim Kollega

Sim Kollega war so alt, soweit meine Erinnerung reichte, ein lustiger Mann, mit goldenem Herz, ein wahrer Kinderfreund. Die langen vom Lautsprecher vollgesungenen Sonntagnachmittage verbrachte er im schattigen Dorfpark, um die Gesellschaft aller anderen Dorfbewohner zu genießen oder vielleicht auch, um sich ein wenig auszuruhen. An der Hand trug er eine kaputte Handuhr. Mit der Zeit hatte er so seine Mühe, und jedesmal, wenn jemand an ihm vorbeiging, hörte man ihn stöhnen „Ach, so spät ist es schon!“

Seine alte Weste war reich dekoriert mit allen möglichen Auszeichnungen, für Traktoristen, Kosmonauten, Sportturniere, und sogar die Kommunistische Partei hatte Platz an seiner Brust. Es waren kleine Geschenke der Dorfbewohner, ein Beweis seiner Beliebtheit, denn hassen konnte man diesen Menschen nicht. Sein leises Lächeln sponn unsichtbare Fäden durch das Dorf, und jeder wurde von diesen Fäden der Unschuld schon mal leicht berührt. Sim Kollega stand Gott sehr nahe, aber darüber sprach man nie im Dorf.

Auch gute Ratschläge konnte man sich von ihm holen. Das Schneiden der Fingernägel konnte einem eine schlimme Erkältung bringen. Er Sim tat das nie. Seine langen Fingernägel reichten bis ins vergangene Jahrhundert, und das grünste Gras, und das wußte auch nicht jeder, wuchs mit Vorliebe auf der Harbachbrücke.

An manchen Tagen zog er mit kleinen Schritten eine mit Säcken beladene Karre zur Mühle. „Wohin gehst du, mein Junge!“ rief er uns freundlich nach. „Du bist ja der Kleinste von…, mit ihm war ich im Ersten Weltkrieg, da hab ich dem Kommandanten den Herd geputzt, und dann war der Krieg auch schon zu Ende. Und noch was mein Junge, hast du schon mal gehört, wie schön die Turmuhr schlägt?“

Unser Freund hatte recht. Man mußte nur stehenbleiben. Welch wunderbaren Sachen konnte man dann hören, und das mit den eigenen Ohren: Das Quaken der Frösche, das Gackern der Hühner, das Bellen der Hunde oder das leise qualvolle Summen der Fliegen, die Wassertropfen, die müde von den Dächern fielen, oder den Wind, der hoch vom Himmel, direkt von unserem lieben Herrgott kam. Und man konnte auch das Schlagen der Turmuhr hören und mitzählen. Wenn es dann dreimal auf die große Glocke schlug, dann konnte man sicher sein, daß es schon drei Uhr nachmittags war.

Zu dieser Zeit bekammen wir Kinder des Dorfes unser Jausenbrot mit Schweineschmalz, Zwiebel und Salz. Das Brot mußte man hoch in den Himmel halten, am besten kletterte man gleich auf die Straßenbank, denn der Hahn des Nachbarn hatte den gleichen Hunger und oft auch denselben Geschmack.

Und wenn es dann Sonntagabend keinen Stromausfall wegen des Wolkenbruches über Kirchberg gab, dann strömten wir zum Gemeindesaal. Old Shatterhand und Winnetou konnten jeden Leschkircher begeistern. Sim und sein Freund Uta durften in der ersten Reihe sitzen. Es gelang ihnen jedesmal zu überleben, denn sie selbst waren ja zwei Helden, nur durfte man nicht laut darüber sprechen.

Sim, liebster Freund Sim, wir haben dich alle geliebt und ich möchte gerne glauben, daß nur deinetwegen der Erste Weltkrieg ein paar Jahre früher beendet wurde.  Du, der du niemanden jemals etwas Böses angetan hast, wurdest an einem wunderschönen Herbstsonntag zu Grabe getragen. Das ganze Dorf hat getrauert. Doch heute wachsen keine Blumen auf deinem Grab, auch das grünste Gras nicht, dein Grab wurde mit einem schweren Betondeckel abgedeckt.

Vielleicht wollten die Letzten, die sich an dich erinnert haben, dich beschützen. Aber wovor? Du hast nie ein schlechtes Wort gehabt, auch nicht für die, die dich belächelt und verspottet haben.

 

von Gustav Müller

 

 

 

 

 

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